Neues aus Erfurt               Zurück

Drei Entscheidungen des in Erfurt tagenden Bundesarbeitsgerichtes (BAG) aus jüngerer Vergangenheit haben nicht nur in der relativ kleinen Welt der Arbeitsrechtler außerordentlich kontroverse Debatten und hektische Aktivitäten ausgelöst. Die hier zu besprechenden Entscheidungen sind über die entschiedenen Einzelfälle hinaus in ihrer Tragweite für die arbeitsrechtliche Praxis von großem Interesse.

Die Entscheidung im "Fall Emmely" vom 10.06.2010 führt zu teilweise dramatisch formulierten Wortmeldungen. Ein Anwaltskollege aus München sah sich in seinem Beitrag in einem juristischen Fachblatt sogar zu der Überschrift hingerissen: "Eine Republik gerät ins Wanken".

Was ist geschehen?

Eine seit dreißig Jahren beschäftigte Kassiererin einer Einzelhandelskette hatte zwei ihr nicht gehörende Pfandbons im Wert von 1,30 € bei einem Privateinkauf wie eigene Bons eingelöst; der Arbeitgeber hatte daraufhin fristlos gekündigt. Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht hielten die Kündigung für wirksam. Das BAG hat diese Entscheidungen aufgehoben und die ausgesprochene Kündigung für unwirksam erklärt. Aus der bisher vorliegenden Pressemitteilung lassen sich in etwa die folgenden Argumente ableiten:

Maßgebend für die Beurteilung der Wirksamkeit der Kündigung ist § 626 BGB. Danach kann eine fristlose Kündigung nur aus wichtigem Grund erfolgen. Das Gesetz kennt in diesem Zusammenhang keine absoluten Kündigungsgründe. Ob ein wichtiger Grund vorliegt, muss vielmehr nach dem Gesetz unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsparteien beurteilt werden. Dabei sind alle für das jeweilige Vertragsverhältnis in Betracht kommenden Gesichtspunkte zu bewerten. Dazu gehören das gegebene Maß der Beschädigung des Vertrauens, das Interesse an der korrekten Handhabung der Geschäftsanweisungen, das vom Arbeitnehmer in der Zeit seiner unbeanstandeten Beschäftigung erworbene Vertrauenskapital ebenso wie die wirtschaftlichen Folgen des Vertragsverstoßes.

Entgegen jahrelanger anderweitiger Übung hat das BAG im Rahmen der Interessenabwägung erstmals die Höhe des wirtschaftlichen Schadens als entscheidungsrelevant bezeichnet. Bisher galt, dass eine Beschädigung der Vermögensinteressen des Arbeitsgebers auch nach längerer Betriebszugehörigkeit die fristlose Kündigung rechtfertigte, wenn der angerichtete Schaden gering war. Die Höhe des angerichteten Schadens war also bislang für die Beurteilung der Wirksamkeit der Kündigung nicht ausschlaggebend.

Aus dieser Änderung der Beurteilungsgrundsätze bei der Überprüfung von Kündigungen ergibt sich die praktische Bedeutung des Falles.

Sofern sich die Begehung einer Straftat sicher nachweisen ließ, konnte man bisher auch bei sogenannten "Bagatelldelikten" mit geringem wirtschaftlichen Schaden die einigermaßen zuverlässige Prognose anstellen, dass eine hierauf erfolgte Kündigung von den Arbeitsgerichten für wirksam erachtet würde.

Das BAG hat nun entschieden, dass nach einer 30jährigen beanstandungsfreien Betriebszugehörigkeit jedenfalls in Zukunft bei einem Schaden von 1,30 € eine fristlose Kündigung keinen Bestand haben kann. Ob sich bei lediglich zehnjähriger Betriebszugehörigkeit und identischer Schadenhöhe ein anderes Ergebnis zu ergeben hat, bleibt unbeantwortet. Es sollte auch keineswegs erwartet werden, dass die Rechtsprechung in naher Zukunft einen tabellenartig aufgelisteten Katalog liefert, aus dem sich ableiten ließe, nach welcher Betriebszugehörigkeit und welcher Schadenhöhe eine Kündigung gerechtfertigt sein kann. Die eingangs zitierten Grundsätze über die Abwägung aller Umstände des Einzelfalles erfordern eine gänzlich andere Prüfung als das Ablesen festgelegter Werte aus einer Tabelle. Die Kündigung von Arbeitsverhältnissen bei sogenannten "Bagatellstraftaten" ist durch die Entscheidung im "Fall Emmely" deutlich erschwert worden. Über die Frage der Beweisbarkeit hinaus muss in Zukunft vor einer Kündigung deutlich abgewogen werden, in welchem Verhältnis beispielsweise die Betriebszugehörigkeit und die Höhe des angerichteten Schadens zueinander stehen. Da es eine amtliche/gerichtliche Matrix - vergleichbar etwa dem Bußgeldkatalog - nicht gibt und nicht geben wird, sind Prognosen zu gerichtlichen Entscheidungen über die Wirksamkeit von Kündigungen in diesen Fällen in seriöser Weise kaum noch zu begründen. Die Kündigung im "Fall Emmely" erfolgte im Januar 2008; nach der Entscheidung des BAG vom 10.06.2010 wird der unterlegene Arbeitgeber die vertragsgemäße Vergütung ab Januar 2008 bis dato an die Mitarbeiterin nachzahlen müssen. Angesichts dieses wirtschaftlichen Risikos wird sich jeder Arbeitgeber den Ausspruch einer fristlosen Kündigung bei einem "Bagatelldelikt" mit völlig ungewissem Ausgang des Kündigungsschutzprozesses sehr genau zu überlegen haben. Da Bundesrichter durchaus den Ruf genießen, kluge Menschen zu sein mit Blick auf die Konsequenzen ihrer Entscheidungen, wird man davon ausgehen können, dass mit der Entscheidung im "Fall Emmely" ganz bewusst auch die Absicht verfolgt wurde, die Kündigung wegen einer Straftat mit geringem wirtschaftlichen Schaden deutlich zu erschweren. Ob man dies nun für richtig oder falsch hält, ist eine Frage des persönlichen Standpunktes. Man wird sich aber zunächst hierauf einzustellen haben.

Einen weiteren Abschied von althergebrachten Grundsätzen haben aktuell der 4. und der 10. Senat des BAG vollzogen und den seit dem Jahr 1957 von der Rechtsprechung hoch gehaltenen Grundsatz der Tarifeinheit aufgegeben.

Diesen Grundsatz hat man bisher immer zur Auflösung von Konflikten aus dem Nebeneinander verschiedener Tarifverträge in demselben Betrieb bemüht, also in Fällen der sogenannten Tarifpluralität. Hiervon wird gesprochen, wenn in einem Betrieb für verschiedene Arbeitsverhältnisse derselben Art unterschiedliche Tarifverträge mit einander überschneidenden Inhalten gelten. In öffentlichen Krankenhäusern sind beispielsweise nebeneinander die für alle Beschäftigten abgeschlossenen Tarifverträge des öffentlichen Dienstes (BAT, TVöD) neben den Tarifverträgen des Marburger Bundes abgeschlossen. Während die Tarifverträge des Marburger Bundes ausschließlich die im öffentlichen Dienst beschäftigten Ärzte betreffen, erfassen die von der Gewerkschaft ver.di abgeschlossenen Tarifverträge alle Angestellten, also Ärzte, Pflegepersonal, Verwaltungspersonal usw. Das BAG hat 1957 konsequent den Grundsatz vertreten, dass für ein und denselben Betrieb auch nur ein Tarifwerk gelten könne und hierbei vereinfacht gesagt dem Tarifwerk den Vorrang eingeräumt, welches für die größere Anzahl der Beschäftigten Geltung hatte, also in der Regel pro ver.di contra Marburger Bund.

Die enorme Veränderung gewerkschaftlicher Strukturen in den letzten Jahren mit der Entwicklung von Spartengewerkschaften/Spezialistengewerkschaften (Lokführer, Piloten, Ärzte, Fluglotsen) hat aus einem früher eher rechtstheoretischen Problem ein drängendes Alltagsproblem für die Praxis werden lassen. Die Hessenschau berichtete am 28.07.2010, dass der Vorstand der DB AG ganztags zwischen zwei Frankfurter Hotels hin- und herpendelte, um zeitgleich Tarifverhandlungen mit konkurrierenden Gewerkschaften zu führen.

Die Spartengewerkschaften sind wegen ihres enormen Streikpotentials äußerst durchsetzungsfähig. Dies birgt aber auch die Gefahr eines ungezügelten Wettbewerbs mit den Großgewerkschaften des DGB. Ohne Tarifeinheit sind häufigere und härtere Arbeitskämpfe zu erwarten. Fachleute befürchten Zustände wie in der englischen Wirtschaft vor der Regentschaft der Premierministerin Thatcher. In der englischen Wirtschaft war der Konkurrenzkampf unter den Gewerkschaften um die Gunst von Mitgliedern soweit eskaliert, dass die miteinander konkurrierenden Gewerkschaften in ein und demselben Betrieb immer höhere Forderungen stellten und zur Durchsetzung der Forderungen auch die in Betracht kommenden Arbeitskampfmittel einsetzten. Eine verlässliche Grundlage für die Produktionssicherheit, wie sie die Tarifverträge eigentlich für die Dauer ihrer Laufzeit begründen, war damit abhanden gekommen.

Die Befürchtungen der sich aus der Aufgabe der Tarifeinheit ergebenden Konsequenzen der Wirtschaft müssen groß sein. In einer geradezu einmaligen Allianz haben der Bundesverband Deutscher Arbeitgeber und der Deutsche Gewerkschaftsbund eine gemeinsame Gesetzesinitiative zur Kodifizierung der Tarifeinheit eingebracht. Danach soll durch eine Änderung des Tarifvertragsgesetzes auch in Zukunft der Tarifvertrag der mit mehr Mitgliedern im Betrieb vertretenen Gewerkschaft den Tarifvertrag der kleineren Gewerkschaft verdrängen. Mit Blick auf die geschichtliche Entwicklung der bundesdeutschen Wirtschaft, die nach dem zweiten Weltkrieg nach Auffassung eigentlich aller Fachleute durch den Grundsatz der Tarifeinheit maßgeblich positiv beeinflusst worden ist, muss man der Gesetzesinitiative Erfolg wünschen. Der Politik muss es allerdings gelingen, die jetzt noch bestehenden verfassungsrechtlichen Bedenken bei der Umsetzung im Gesetzgebungsverfahren zu beseitigen.

Mit Urteil vom 20.01.2009 zwang der Europäische Gerichtshof das BAG zu einer wesentlichen Änderung seiner Urlaubsrechtsprechung. Nach der Rechtsprechung des BAG verfiel der Urlaubsanspruch am Jahresende, spätestens aber mit Ablauf des 31.03. des Folgejahres auch dann, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub wegen einer Erkrankung nicht nehmen konnte.

In einer ersten Entscheidung vom März 2009 hat das BAG die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofes umgesetzt und in einer weiteren Entscheidung vom März 2010 bestätigt bzw. weiterentwickelt. Danach gilt nun, dass der gesetzliche Mindesturlaub von zwanzig Arbeitstagen und auch der gesetzliche Zusatzurlaub für Schwerbehinderte von fünf Arbeitstagen pro Jahr nicht mehr verfallen können, wenn der betroffene Arbeitnehmer den Urlaub wegen Krankheit nicht realisieren konnte. Dies bedeutet für die arbeitsrechtliche Praxis: Der gesetzliche Mindesturlaub und der Zusatzurlaub für Schwerbehinderte werden in jedem Jahr des rechtlichen Bestandes des Arbeitsverhältnisses erworben, auch wenn der Arbeitnehmer ganzjährig erkrankt war. Diese Ansprüche unterliegen nicht dem Verfall nach § 7 BUrlG. Die Ansprüche können allenfalls verjähren nach Ablauf von drei Jahren.

Es entspricht der betrieblichen Realität, dass gerade bei älteren langzeiterkrankten Arbeitnehmern, die keine Arbeitsleistung erbringen können und Lohnersatzleistungen beziehen, der rechtliche Bestand des Arbeitsverhältnisses unangetastet bleibt, da den Arbeitgeber keine Lohnkosten treffen und er daher kein Interesse an einer Beendigung des Vertragsverhältnisses hat. Diese Situation ist durch eine vordergründig arbeitnehmerfreundliche Entscheidung auf europäischer Ebene verändert worden. Gerade wenn ein Arbeitnehmer nach mehrjähriger Erkrankung und dem Bezug von Lohnersatzleistungen Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung beziehen kann, bleibt ihm die Möglichkeit, die Barabgeltung der während seiner Krankheitszeit aufgelaufenen Urlaubsansprüche aus den letzten drei oder vier Jahren zu verlangen. Pro Jahr geht es hierbei immerhin um Beträge in der Größenordnung eines Monatsgehaltes.

Es ist abzuwarten, ob das bisherige Arbeitgeberverhalten überwiegend so beibehalten wird. Viel spricht dafür, dass die europäische Rechtsprechung die Personalverantwortlichen allein wegen der wirtschaftlichen Auswirkungen weiterer Untätigkeit dazu zwingt, die Arbeitsverhältnisse von Langzeitkranken auf vorzeitige Kündigungsmöglichkeiten hin zu untersuchen. Es muss daher die Frage erlaubt sein, ob tatsächlich und dauerhaft die Interessen langzeitkranker Arbeitnehmer geschützt wurden.



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